Das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris gilt als Wiege unserer Zivilisation. Die Hochkulturen der Sumerer, Assyrer, Babylonier und Meder kommen von hier. Juden, Christen und Muslime haben auf dem Gebiet des heutigen Irak eine lange Geschichte. Als Staat wurde der Irak 1920 unter britischer Herrschaft künstlich geschaffen. Seit damals reißen die Konflikte in dem ölreichen Vielvölkerstaat nicht ab. Die inzwischen seit 1980 andauernden Kriege gegen den Iran und dann die USA rissen die Gräben zwischen den Sunniten, Kurden und Schiiten noch weiter auf, forderten Hunderttausende Tote und zerstörten weite Teile des Landes.
Durch das Erstarken der Terrororganisation IS ("Islamischer Staat") kam es ab 2014 zu einer weiteren Eskalation. Auch wenn inzwischen alle Regionen offiziell vom IS befreit werden konnten, gibt es immer noch Widerstandsherde. Nach dem Referendum der Kurden im September 2017 befinden sich sogar noch mehr Menschen auf der Flucht. Sie leben in Lagern oder anderen Notunterkünften. Das Erdbeben mit Stärke 7,3 hat die Lage noch verschärft. Zahlreiche Städte wurden bei den Kämpfen gegen den IS vollständig zerstört und sind nicht mehr bewohnbar. 2,3 Millionen Binnenflüchtlinge kehrten trotzdem in ihre Heimatstädte zurück. Aber dort stehen sie vor nichts als Trümmern. Es gibt kein Wasser, keinen Strom, Schulen und Behörden sind Ruinen, Straßen existieren nicht mehr. Der Wiederaufbau geht nur langsam voran und die Sicherheitslage ist immer noch brisant.
Die Enkelin strahlt, als sie erzählt: "Opa kann nicht mehr so gut laufen. Deshalb wollte er im Haus bleiben, als wir alle fliehen mussten. Aber Mama und Papa wollten ihn nicht allein lassen. Sie sind bei ihm geblieben. Wir sind mit meinen Onkeln, Tanten und Cousinen ganz weit gelaufen. Zwei Nächte lang haben wir draußen geschlafen. Dann hat uns ein netter Mann in seinem Lager wohnen lassen. Erst dachten wir, dass wir bald zurückgehen können, doch wir müssen immer noch bleiben. Und auf einmal waren Mama, Papa und Opa wieder bei uns. Mama weint viel. Ich bin so froh, dass Opa es geschafft hat."
Die Enkelin hat Explosionen und Schüsse gehört. Das Drama der Flucht erzählten ihr die Erwachsenen nicht. Sie hofften, dass die IS-Kämpfer abziehen würden, doch die fanden und bedrohten sie: "Wenn ihr nicht geht, dann schneiden wir euch die Köpfe ab!" Alle mussten loslaufen, auch der 90-jährige Großvater, und der IS verfolgte sie noch lange mit Motorrädern und Gewehren im Anschlag. Sie hatten alles verloren, doch immerhin waren sie am Leben. Irgendwann fanden sie ein Taxi, das diejenigen, die nicht mehr laufen konnten, die letzten Kilometer nach Erbil brachte. Dort trafen sie ihre Angehörigen wieder. Ein barmherziger Restaurantbesitzer hatte kurzerhand seinen Lagerschuppen geräumt, ihnen dort Unterschlupf gewährt und sie versorgt.
So wie viele andere wartet die Familie seitdem auf die Möglichkeit, wieder zurückzukehren. Der Schuppen ist nicht komfortabel: Das Dach hat Risse, es gibt Skorpione und die Sippe haust dort mit 40 Personen auf engstem Raum. Aber sie leben! GAiN hat auch diese Familie mit Kerosin zum Heizen und Kochen versorgt, mit Lebensmitteln, Kleidung und Decken. Trotzdem ist ihre große Frage: Wie wird es weitergehen?
Als ein GAiN-Katastrophenteam 2014 ins Land kam, wurde Mossul gerade von dem IS überrollt. Eine Flüchtlingswelle kam in Erbil an und zusammen mit zwei Partnerorganisationen vor Ort konnte GAiN etliche von ihnen mit dem Lebensnotwendigen versorgen. Inzwischen gibt es mobile Kliniken, die die Menschen im Nordirak auch medizinisch betreuen. Außerdem stellt GAiN für über 300 Flüchtlingsfamilien regelmäßig Pakete mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Kleidung und vielem anderen zur Verfügung.
"Man hat uns alles genommen. Erzählt unsere Geschichten weiter. Vergesst uns nicht." Diesen Satz hört Andrea Wegener bei ihrem Hilfseinsatz im Irak 2014 immer wieder. Die Mitarbeiterin des Katastrophenteams von GAiN ist im Land, als der IS den Christen in Mossul ein Ultimatum stellt und sie Hals über Kopf die Stadt verlassen müssen. Viele flüchten sich nach Erbil, einige sogar in die Wohnung, in der auch Andrea Wegener und ihre Kollegen untergebracht sind. Die Katastrophenhelferin erlebt hautnah mit, wie sich die Lage der Flüchtlinge mit der Ausbreitung des IS und der Vertreibung Zehntausender Christen und anderer Minderheiten von Tag zu Tag verschärft. Sie ist vielen der Verfolgten begegnet, zuletzt im Herbst 2015, und hat ihre Geschichten aufgeschrieben. Das Buch nimmt uns unmittelbar in das Erleben von Terror, Vertreibung und Flucht hinein. Es schildert aber auch das Gottvertrauen, das die Christen im Nordirak nicht erst seit dem Vordringen des IS prägt.